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BeitragVerfasst: Mo 12. Sep 2011, 10:44 
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Medienwissenschafterin Jana Herwig betrachtet das Phänomen Anonymous aus kulturwissenschaftlicher Sicht

Die Theaterwissenschafterin und Medienforscherin Jana Herwig beschäftigt sich seit Jahren mit Internetkultur in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Seit 2009 schreibt sie in verschiedenen Publikationen, unter anderem für den „Guardian", über das Imageboard 4chan.org und Anonymous. Die Auflösung der Identität, ihre Folgen für die Kommunikation und die Bedeutung der Maskierung sind für die Kulturwissenschaftlerin relevante Gesichtspunkte im Zusammenhang mit dem virtuellen Protest. Über politische Implikationen, die Schwierigkeiten der Medien mit dem neuen Phänomen und dem Potenzial zivilen Ungehorsams im Netz sprach sie mit Alois Pumhösel.

derStandard.at: Was interessiert Sie an Anonymous?

Jana Herwig: Anonymous ist 2008 erstmals breit als Kollektiv aufgetreten. Mich hat vor allem interessiert, wie dabei Identitäten aufgelöst werden, eigentlich zerstört werden. Dabei geht es nicht mehr um diese berühmten „postmodernen Identitäten", sondern um das Auflösen jeglicher Position, von der aus man sprechen kann. Dieses Abgeben der Identität scheint Raum zu öffnen für bestimmte Experimente. In diesen Zusammenhang ist eben auch Anonymous entstanden. Mich interessiert nicht, wer die Personen dahinter sind. Im Gegenteil: Mich interessiert, wie das als Bedeutungspraxis für die Personen, die Anonymous verwenden, funktioniert. Auf 4chan.org, das als Ursprung des Kollektivs Anonymous gilt, kann man sich nicht registrieren. Namenlose sprechen dort miteinander, Anonymous spricht mit Anonymous. Aus dieser Praxis ist etwas Größeres entstanden. Anonymous hat eine bestimmte rhetorische Erscheinungsform. Dazu gehören die Wahlsprüche „We are Anonymous. We are Legion. We do not forgive. We do not forget" und ihre Variationen. Dazu gehört ein bestimmtes optisches Auftreten, sei es in der Gestaltung der medialen Produkte, sei es bei öffentlichen Demonstrationen mit der Guy-Fawkes-Maske aus dem Comic „V for Vendetta". Das heißt, dass ein ganzes Repertoire an Mitteln zur Verfügung steht, um sich diese Sprecherfunktion anzueignen. Und die verändert sich natürlich auch immer mit den einzelnen Operationen.

derStandard.at: Wie hat die Entwicklung von Anonymous, angefangen mit den anonymen Beiträgen auf 4chan.org über den Kampf gegen Scientology bis hin zum globalen Phänomen mit großer Medienöffentlichkeit, aus Ihrer Sicht stattgefunden?

Jana Herwig: Gerade durch die Wahrnehmung durch die Medienöffentlichkeit werden Anonymous bestimmte Dinge zugeschrieben, die vielleicht nicht ganz stimmen. Ich kann den Weg natürlich nur lückenhaft nachzeichnen. Es gab eine bestimmte Kommunikationskultur, die auf 4chan besonders aufgeprägt war, die man aber auch, wenn man wollte, noch weiter zurückverfolgen könnte. Auch zu Usenet-Zeiten war es möglich, bestimmte Server zu benutzen, die, wenn man eine E-Mail geschickt hat, die ganze persönliche Information weggenommen haben, und über die man dann als "Anonymous" gepostet hat. (Usenet startete 1980 Diskussionsforen bereitzustellen Anm.) Der Gedanke dahinter ist, dass, wenn man nicht weiß, von wem etwas kommt, nicht nur die Privatsphäre gewahrt wird, sondern dass auch ein hierarchiefreier Raum entsteht. 4chan ist kein aktivistisches Forum, aber in dieser anonymen Kommunikation schon immer global gewesen. In diesem ständig fluktuierenden Kollektiv ist es immer wieder zu gemeinsamen Aktionen gekommen. Man hat etwa versucht, das virtuelle „Habbo Hotel" einzunehmen. Man hat sich Aufgaben formuliert und dann versucht, das im Kollektiv einzulösen. Auch ganz banale Dinge. Wie etwa: Wer ist der nächste, der in einem Posting eine automatische Nummer mit drei Nullen zugewiesen bekommt? Das sind Spiele, die die interaktive Kommunikation voranbringen. Und dann hat sich die Geschichte mit Tom Cruise ereignet.

derStandard.at: Das so genannte Projekt „Chanology" war der Internet-Protest gegen Scientology, als die Organisation versuchte ein internes Video mit Tom Cruise, das auf Youtube gelangt war, mittels rechtlichen Schritten löschen zu lassen. Wie hat sich das ausgewirkt?

Jana Herwig: Die Methoden kann man in den Kontext von „Electronic civil disobedience" stellen. Das heißt, man betrachtet den virtuellen Raum in Analogie zum realen Raum. Wenn wir die Straßen besetzen können, können wir auch virtuelle Infrastrukturen angreifen, um unseren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Das ist damals passiert. Wenn es nicht Tom Cruise gewesen wäre, wäre sicherlich die internationale Aufmerksamkeit nicht so groß gewesen. Ich würde mutmaßen, dass auch die Demonstrationen eine ganz große Rolle gespielt haben, schon allein das visuelle Material, das damals generiert wurde, diese Menge an Personen mit Masken, die mit Plakaten im öffentlichen Raum demonstrieren. Das hat auch ein visuelles Erscheinungsbild geprägt. Die Bilder werden ja auch immer wieder verwendet.

derStandard.at: Und die breite öffentliche Aufmerksamkeit, mit der man dann etwas anfangen musste, führte zur Ideologisierung?

Jana Herwig: Das würde ich so sehen, dass das zur Ideologisierung geführt hat. Vom Kampf gegen Scientology ausgehend, wurde das aktionistische Potenzial gestärkt. Ein Journalist, Barrett Brown, trat zwischenzeitlich als inoffizieller Sprecher auf, obwohl Anonymous immer wieder sagt, dass sie keine Sprecher haben. Eine schwierige Konstellation. Er hat die Sache dann hingeworfen, weil ihm offensichtlich die positive Ausrichtung gefehlt hat. Kämpfe innerhalb des Kollektivs finden immer wieder statt. Das konnte man sehr schön in Österreich beobachten. Da ist zuerst AnonAustria mit dem Verständnis aufgetreten: Wir sind jetzt Anonymous. Es war dann sehr lustig, dass sie nach dem Angriff auf die Grünen in ihrer Pressemitteilung schrieben, dass Widerspruch im Kollektiv nicht geduldet werde. Welcher Anon da auch gehandelt habe, das wäre nicht abgesegnet gewesen. Dann haben die anderen reagiert und darauf gepocht, dass Anon ein heterogenes Kollektiv sei. Insofern seien auch sie Anonymous. Das kann man immer wieder beobachten, dass solche Dinge passieren. Das heißt, wenn sich das Ganze in eine Richtung überformt, kommt es zu solchen Gegenaktionen. Dann werden auch Infrastrukturen, die von Anonymous selbst verwendet werden, angegriffen.

derStandard.at: Das macht es für die Öffentlichkeit umso schwieriger, der Sache habhaft werden. Mit so einem fluktuierendes Schema haben auch die Medien ihre Schwierigkeiten. Wo verortet man sie dann wirklich? Mittlerweile gibt es Seiten wie du-bist-anonymous.de, die als Rekrutierungsstelle agieren und Anonymous zu einer Breitenbewegung ausbauen will.

Jana Herwig: Schauen wir einmal, wie das wird. Das entsteht in verschiedenen Ländern. whatis-theplan.org macht was ähnlich. In einem Mission Statement Video auf ihrer Webseite greifen sie bürgerrechtliche Traditionen auf. Ähnliches passiert auf du-bist-anonymous.de. Ich fand das hinreißend. Die fangen mit Consumer Protest an und haben dann ihre Operation Sparkasse Österreich. Einerseits entspricht das genau dem, was Anonymous immer einfordert. „Join us" ist eine Variante des Wahlspruchs. Andererseits: Sollten die zu groß werden, sollten da Leute an die Öffentlichkeit gehen, und sich namentlich als Vertreter demaskieren, wird das wieder zu Gegenaktionen führen, wäre meine Vermutung. Würde man da ein bürgerrechtliches Spin Off machen, bei dem die Menschen namentlich auftreten, dann muss man vermutlich einen anderen Namen verwenden. International gab es diese LulzSec-Geschichte, die haben einen anderen Namen verwendet und sind anders aufgetreten.

derStandard.at: Hat Anonymous grundsätzlich das Potenzial für eine Bürgerrechtsplattform, für eine politisch relevante Organisation?

Jana Herwig: Denke ich schon. Ich würde aber Abstand nehmen von „Organisation". Ich glaube nicht, dass es nicht eine fixe Plattform oder eine fixe Organisation braucht, sondern es geht eher um die Einübung einer Haltung des Protests. Natürlich gibt's dann auch noblere Dinge wie die Unterstützung in Ägypten und Tunesien, die es dann schwer machen, Anonymous für Dinge, die rechtlich schwierig sind, zu verdammen.

derStandard.at: Schon die Benennung ist schwierig. Offenbar ist es unbefriedigend für Medien und ihre Konsumenten, die Leute nicht zu sehen, sondern nur die Idee.

Jana Herwig: Eigentlich kann man nur Phänomen oder Schema sagen. Auch Kollektiv ist gleich wieder irreführend. Es ist ein offenes Kollektiv, die Zusammensetzung ändert sich ständig. Auch beim Uni-Brennt-Protest in Österreich gab es das Problem, dass man sich weigerte zu sagen, wir haben jetzt einen Sprecher.

derStandard.at: Wie schafft man eine neue Kommunikationsform, wo das alles berücksichtigt ist, auch die Interessen der Medien und jener, die informiert werden wollen?

Jana Herwig: Die müssen aktiv werden. Es gibt etliche Twitter-Accounts, die Informationen zusammentragen. Die Aufgabe der Medien kann aber nicht darin bestehen, einfach nur diese Nachrichten weiterzugeben. Mittlerweile ein Klassiker sind die Interviews mit den Leuten hinter den Twitter-Accounts. Das wird sich nicht auflösen lassen. Das muss einfach eine derartige Situation bleiben, weil eine eindeutige Kommunikation der Ideologie von Anonymous widersprechen würde. Man muss sich hineinbegeben, in die interaktiven Medien. An und für sich trägt man zu Anonymous in der Minimaldefinition schon bei, wenn man einen Tweet retweetet, und die Aufmerksamkeit verbreitert.

derStandard.at: Was ergibt sich für die politische Einordnung? Wie geht das mit Realpolitik zusammen?

Jana Herwig: Das geht mit Realpolitik nicht unmittelbar zusammen. Aber es ist eine Tatsache, dass es ein beliebtes Thema ist, dass sich Menschen damit auseinandersetzen. Letztlich ist die Botschaft ja auch: Wir gegen die Mächtigen. Da ging Anonymous auch gut mit Wikileaks-Aktionen zusammen, deren Botschaft ganz simpel war: Wir decken auf, was euch die Korrupten vorenthalten. Es geht eher um eine Vorbereitung von Aktivierung.

derStandard.at: Oft werden sie in der Politik einfach nur als Verbrecher abgestempelt.

Jana Herwig: Das muss alles erst ausgefochten werden, auch die Verhältnismäßigkeit, wie überhaupt bestimmte Delikte einzuordnen sind. Die Rechtssprechung sieht nicht vor, das es eine Ausweitung dieses Konzepts auf den virtuellen Raum gibt. Das ist kein ausgefochtener Kampf.

derStandard.at: Versteht die konventionelle Politik das Internet nicht? Nimmt sie es noch nicht ernst genug?

Jana Herwig: Was realpolitische Fragen angeht, würde ich sagen, die Piratenparteien sind jene, die die Auseinandersetzung führen, und sich als jene mit dem technologischen Durchblick etablieren. Das spielt bei Anonymous auch eine große Rolle. Der Aspekt, reden zu können, auftreten zu können, sich eine Sprecherposition aneignen zu können, die man sonst nicht hat, ist aber das Wichtigere bei Anonymous.

derStandard.at: Ein starker Kontrast: Wir haben die Politik, die stark auf Hierarchien baut, wo eine Person im Vordergrund steht und wir haben auf der anderen Seite die Auflösung der Identität. Treffen sich die irgendwann in der Mitte?

Jana Herwig: Sie werden sich in der Art treffen, dass jene die bei Anonymous mitgemacht haben, sich irgendwann politisch engagieren. Es machen viele mit, nicht nur Hacker, da gehört ein ganz breites Spektrum an Kompetenzen dazu. Es ist eine Art Aktivierungsvorbereitung für andere politische Bewegungen.

derStandard.at: Es wird vielleicht in 30 Jahren einen Joschka Fischer von Anonymous geben?

Jana Herwig: Einen der vielleicht in seiner Jungend bei Anonymous mitgemacht hat. Ich sehe es eher als eine Art Trainingscamp für mutige Bürger.

derStandard.at: Zur Guy-Fawkes-Maske. Was hat es für Konsequenzen, wenn so eine Ikonographie derartig im Vordergrund steht?

Jana Herwig: Verschiedene Aspekte: Einerseits setzt man die Maske nicht nur auf, um mich zu verstecken, sondern auch um jemand anderer zu sein. Sie hat eine eigene Kraft. Man kann Dinge in sich entdecken, von denen man gar nicht gewusst hat, dass die in einem stecken. Man könnte daran auch gleich eine Neoliberalismus-Kritik anheften, wenn man wollte: weil das Erscheinungsbild auf eine Corporate Identity hinausläuft.

derStandard.at: Das Underground-Apple?

Jana Herwig: Es ist tatsächlich eine Marke. Nur dass sie niemanden gehört. Wenn man Mittel im Sinne von Electronic civil disobedience einsetzen wollte, würde es keinen Sinn ergeben, zu sagen, man macht jetzt seine eigene Bewegung auf. Sondern wann verwendet ein Label, das bereits verfügbar ist. Man arbeitet damit auch mit an dem Label. In diesem Sinne ist es auch eine sehr effiziente Gestaltung eines internationalen Protests. (Alois Pumhösel, derStandard.at, 11.9.2011)


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